- Neuere Ansichten zu Pessach  

(Jüdische Zeitung, April 2014)

„Jeder der hungrig ist, komme und esse“. Mit diesen Worten aus der Haggada, der Erzählung von dem Auszug aus Ägypten, wird am ersten Abend des Pessachfests beim gemeinsamen festlichen Mahl der Sederteller in die Höhe gehoben. Das hört sich sehr sozial an. Jedoch haben manche Juden den traditionellen Sederabend aufgegeben, weil ihnen die Geschichte, die an diesem Abend erzählt wird, gar nicht so sozial vorkommt. Wie kann es sein, fragen sie, dass die Rettung des eigenen Volkes gefeiert wird, während ein anderes mit schweren Plagen geschlagen wird und schließlich jämmerlich im Meer ertrinkt. 

 Die Frage der Moral ist nicht neu. Der bekannte Bibelkommentator, Philosoph und Staatsmann Don Isaak Abrabanel berichtet zu Ausgang des Mittelalters in seinem Pessach-Kommenatar vom Brauch des Versprengens einiger Weintropfen. Das Versprengen soll die verminderte Freude nach der Errettung andeuten, denn „wegen uns wurde ein ganzes Volk bestraft“. Dieser Brauch wurde vom amerikanischen Reformjudentum wieder aufgegriffen. Ihre Haggada weist die Festgesellschaft an, zehn Tropfen Wein aus dem „Becher der Freude“ zu gießen, „so nimmt der Wein im Becher der Freude ab“.

 Wer das Buch Exodus, die Geschichte des Auszugs, als Mythos versteht, könnte auch ohne Rotweinflecken auskommen. In der Bildsprache des Mythos erzählen grausame Vorkommnisse, Symbolwörter, Wortspiele und Zahlensymbolik von Gegebenheiten und Zuständen, die über die historische Ebene hinausgehen. In der modernen Bibelwissenschaft gilt es heute als unbestreitbar, dass der in der Bibel beschriebene Auszug historisch so nicht stattgefunden hat. Warum dann aber ein „Fest der Erinnerung“ begehen, das an diesem Auszug festhält? 

 Die Zahl derer wächst, die im Buch Exodus einen Mythos sehen. Die neuere Mythenforschung hat dazu wesentlich beigetragen. Die Grundstruktur der mythischen Erzählung, die Wanderung des Mythenhelden, ist auch in der Exodusgeschichte erkennbar. Der mythische Schwellenübergang ist kaum zu übersehen und ist schließlich auch im Namen der Feier enthalten: „Pessach“, ‚Übersprung’. Das Gewässer, das in den Mythen der Völker häufig die Schwelle darstellt, kann in der hebräischen Erzählung im Jordan und im Schilfmeer,„ Jam Suf“ gesehen werden („Suf“ heißt auch ‚zu Ende sein’, ‚sterben’). Von Tod und Wiedergeburt erzählen die Erlebnisse des mythisch Wandernden, die Schwelle kennzeichnet den Übergang zu einem neuen Leben. Bereits das prä-israelitische Frühlingsfest feierte mit „Pessach“ die Wiedergeburt.

Für Rabbiner Arthur Waskow (The Freedom Journey) sind die„Ivrim“ (Hebräer) wortgemäß‚Überschreitende’. „Mitzrajim“ (Ägypten) übersetzt er als ‚Land der Enge’. Wie Waskow, so sehen auch Psychoanalytiker in dem „Land der Knechtschaft“ eine Metapher für die Unfreiheit des Menschen, von der er sich 

befreien müsse. Die Haggada der „Jewish Voice for Peace“ (JVP) distanziert sich ebenfalls von Ägypten als einem nationalen Begriff und will auch „Israel“ nicht in einem national-völkischen Sinne verstanden wissen. Ein „Israel“ sei vielmehr ein Mensch, der wie der gleichnamige biblische „Ahn“ mit Gott gerungen habe.

Eine wortgetreue Auslegung, wie sie noch immer verbreitet ist, kann zu Nationalstolz, unberechtigten Ängsten und politischem Fehlurteil verführen. Uri Avnery weist auf Gefahren im Text der traditionellen Haggada, die Kinder von früh an in der feierlichen Geborgenheit der Familie oder der Gesellschaft hören. „In jeder Generation“ heißt es da beispielsweise, „stehen Boshafte wider uns auf, uns zu Grunde zu richten.“ Kinder, die Jahr für Jahr diesen Spruch als „Gottes Zusicherung“ vernehmen und spätestens als Erwachsene dem Antisemitismus begegnen, neigen zur Entwicklung einer „die-ganze-Welt-ist-gegen-uns-Mentalität“, die von der Boykottbewegung vielleicht zu wenig bedacht wird. Sehr wohl bedacht und politisch instrumentalisiert wird die angstgenährte Mentalität, wenn die politische Führung ein Feindbild aufbaut bzw. sich weigert es abzubauen, weil es für die eingeschlagene politische Richtung benötigt wird. 

Braucht der Sederabend eine neue Haggada? Gott bewahre, rufen die Traditionalisten. Rabbiner Waskow hält ihnen entgegen: Auch für unsere Weisen war das heutige in der Haggada festgelegte Sedermahl eine völlige Umgestaltung des Brauchs, am Tempel zu Jerusalem ein Pessachlamm zu opfern. Er hält die Zeit für gekommen, dem Übergang durch das Meer eine neue Bedeutung zu geben. Die neuen Pharaonen sind Diktatoren, Konzerne, alle Ausbeuter und Unterdrücker. Sklaven sind Menschen, die den Pharaonen anhängen oder sie durch Duldung fördern. Die Streitwagen von einst liefert heute die Rüstungsindustrie - Drohnen braucht ein Pharao nicht einmal zu besteigen.

Neue Versionen der Haggada gibt es bereits. Manche Gemeinschaften konzentrieren sich auf bestimmte Themen. So nimmt sich die Haggada, die „Jewish Voice for Peace“ vorschlägt, besonders der Unterdrückung der Palästinenser an. Unter den Symbolspeisen auf dem Sederteller findet sich hier die Olive. Die Haggada erklärt dazu: „Wir nehmen diese Olive auf als ein Erinnerungszeichen, dass wir alle Träger von Frieden und Hoffnung in der Welt sein müssen. Wir essen diese Olive aber auch mit sorgenvollen Gedanken, da die Olive, eine Lebensquelle für Palästinenser, regelmäßig von israelischen Siedlern und Behörden abgehackt, verbrannt, ausgewurzelt wird.“ Anstelle der traditionellen Aufzählung der Plagen in Ägypten zählt diese Haggada die Bedrückungen für die Palästinenser auf, wie Sperrmauer, Wasserentzug, Häuserzerstörung oder politische Gefangenschaft.

Eine andere alternative Haggada ist die sogenannte „Flüchtlingshaggada“, entworfen von Rabbinern für Menschenrechte (T´ruah) in den USA. Seit sieben Jahren feiern Mitglieder von T´ruah und israelische Organisationen einen Seder mit Flüchtlingen in Tel Aviv. Diese für jedermann zugänglichen Sederabende mit viel Musik und Gesprächen dient einem vielseitigen Zweck. Er soll die Aufmerksamkeit auf die Probleme der vielen Flüchtlinge in Israel werfen, die Angriffen, Diskriminierung, Einsperrung und Deportation ausgesetzt sind. Er soll ein Zeichen der Solidarität sein und er soll Juden daran erinnern, dass die eigene Freiheit unzureichend ist, solange andere sie noch nicht erreicht haben. Aus den Seder-Erfahrungen der vergangenen Jahre ist eine Haggada entstanden, die 2014 zum ersten Mal vorgestellt wird. In ihr erzählen Flüchtlinge von ihrem Schicksal. 

 Vielleicht ist die „Flüchtlings-Haggada“ eine Anregung für jüdische Gemeinschaften, sich des weltweiten Flüchtlingsproblems anzunehmen, der im Mittelmeer Ertrinkenden oder den aus Syrien oder woher auch immer Flüchtenden. Also doch eine neue Haggada? Vonnöten ist gewiss ein Seder, der aus der Knechtschaft herausführt in das „Gelobte Land“, in dem Mitmenschen als Geschöpfe Gottes erkannt werden. Auf das Heben des Sedertellers wird keine Fassung verzichten können: „Jeder, der hungrig ist, komme und esse“.